NDL Masterstudiengang Neuere Deutsche Literaturwissenschaft AGs & Projekte Produktive Rezeptionen
Eine Symbiose aus Wort und Ton. Gedichte expressionistischer Nachkriegslyrik

In einer Symbiose aus Wort und Ton haben wir (Tobias Hainer & Mirko Krenzel) mit diesem künstlerischen Projekt den Versuch unternommen, eine sinnliche Zugangsweise zu lyrischen Texten zu gestalten. Dazu haben wir Gedichte expressionistischer Dichterinnen ausgewählt, die sich kritisch mit der Thematik des Krieges auseinandersetzen. Im Kontrast dazu haben wir das Gedicht Lied an Alle (1914) von Richard Dehmel als kriegsaffirmative Lyrik vorangestellt. Die Zusammenstellung von Text und Musik soll eine Dekonstruktion der kriegsbejahenden Literatur bewirken. Die selbstkomponierte Musik spiegelt dabei mit ihren speziellen Klanggestaltungen die Stimmung der Gedichte wider. Gezielt eingesetzte Klänge sollen akustische Eindrücke des Kriegsgeschehens vermitteln; zugleich findet eine Verzerrung der Wahrnehmung statt, die das Gefühl des Schreckens intensivieren soll. Ziel der stimmlichen Vertonung ist eine Akzentuierung der verschiedenen Kriegsbildnisse der Lyrik. Die getragene Stimme des Sprechers drückt dabei auch eine kritische Distanz aus. 

Das erste Gedicht von Richard Dehmel thematisiert die heroische Kriegsbegeisterung, die viele Künstler*innen in den Ersten Weltkrieg ziehen ließ und die mit einem nationalen Chauvinismus einherging. Es entstand eine künstlerische Anschauung, in der sich eine revolutionäre Ästhetik mit der Kriegsbegeisterung verbunden hat. Dabei wurde das Motiv der Zerstörung einer ‚alten Ordnung‘ in den Vordergrund gestellt. Es sollte durch eine Katharsis eine neue Welt der geistigen Freiheit entstehen. Damit verbunden sind apokalyptische Vorstellungen, die eine ‚Reinigung‘ konservativer Denkrichtungen beschreiben und so einen Neubeginn nach der Zertrümmerung alter Denkmechanismen ermöglichen. Apathische Starrheit und Monotonie der bürgerlichen Verhältnisse lassen dabei eine Stimmung eines notwendigen Aufbruchs der künstlerischen Avantgarde entstehen, die sich in der Ästhetik von Gewalt, Zerstörung und Untergang äußert. Diese ist verbunden mit einem Kulturpessimismus, der eine Kritik an der Moderne beinhaltet, aber auch die Hoffnung auf eine Welt der Freiheit, in der die Subjekte keiner Entfremdung mehr unterworfen sind.

Die Poesie der expressionistischen Dichterinnen stellt dabei einen anderen Blickwinkel auf den Krieg dar und erzeugt eine eigene Darstellungsperspektive auf den Krieg. Denn viele Dichterinnen des Expressionismus problematisierten die Kriegsbegeisterung, „während ihre männlichen Geistesgenossen erwartungsvoll und verzweifelt zu den Schlachtfeldern zogen, von denen viele nicht mehr zurückkehrten.“

Berta Lask spricht in ihrem Gedicht Selbstgericht (1916) von einer Mitschuld an den Grausamkeiten des Krieges:

Ich habe mit getötet
Jeden, der draußen fällt.
Ich habe mich selbst inmitten 
Des Meers von Blut gestellt. 

Mein Wille hat nicht zerbrochen
Kanone und Panzer und Schiff, 
Hat nicht als ruhlose Welle 
Überbrandet der Bosheit Riff. 


Maria Benemann erzählt von den schwer zu beschreibenden Grausamkeiten des Krieges, in denen sich Menschen nur noch als Feinde verschiedener Nationen gegenüberstehen:

Denn Erde ächzt, da man mit Menschen düngt, 
Und Berge noch nicht vor Entsetzen wanken, 
Es ist, als ob der Tod den Sieg erringt,
Und Welten wälzt mit seinen Hungerpranken. 

Die Protagonisten des Krieges begreifen sich nicht mehr als der Gattung Mensch zugehörig, bei der die Gemeinsamkeiten einer kosmopolitischen Verständigung im Vordergrund stehen:

Weil, die aus einem Stamme Dir geboren,
Der Bruder nun den jungen Bruder schändet.

Sondern sie begegnen sich nur noch als fremdes Gegenüber, das von einer Entmenschlichung geprägt ist, in der jegliche Empathie und Anteilnahme verschwunden ist. Aufgezeigt wird in den Versen ein Unverständnis über dieses Grauen und eine Anklage gegen die Notwendigkeit des Krieges. 

Die Schriftstellerin und Feministin Nadja Strasser veröffentlichte im Jahr 1919 eine Sammlung von Essays, in denen sie an dem zeittypischem expressionistischem Pathos des Krieges heftige Kritik übt:

Ich [...] will die geschichtlichen Notwendigkeiten nicht, ich erkenne sie nicht an und respektiere sie nicht. Und kann ich sie auch nicht von mir abwälzen, so tu ich das einzige, was ich zu tun vermag: ich kennzeichne sie in vollem und klarem Wissen ihrer Macht als das, was sie sind: brutal, schlecht, dumm und faul. Ich ziehe vor, mein und andrer Gewissen mit einer Schuld zu belasten – da wir ja alle die Träger dieses Brutalen, Schlechten, Dummen und Faulen sind – um das Dunkel unsres Denkens und Fühlens (vor allem unsres Fühlens) mit einem Strahl des Erkennens zu erleuchten.

Die Wahrnehmung der Sinnlosigkeit des Ersten Weltkriegs führte zu Empörung, Entsetzen und Widerspruch. Elsabeth Meinhard versuchte, dieses Gefühl der anklagenden Ohnmacht in Worte zu transferieren, für die es eigentlich keine Sprache gab:

In roten Schuhen tanzt die Sonne sich zu Tod am Rande der Nacht
Die roten Schuhe sind aus meinen gestorbenen Träumen gemacht.

Die Grausamkeit der realen Welt dringt dabei in die Vorstellungskraft der Phantasie ein und bestimmt dadurch auch ein sinnliches Erleben, in dem die Worte entstehen können, die das Materielle der Wirklichkeit erst ausdrücken können. Die Imagination der Poesie drückt mit ihrer Schwermut auf die Seele, kann aber dadurch erst eine Transformation hervorrufen, in der ein friedvoller Zustand im Innen und Außen erreicht werden kann. Elsabeth Meinhard zieht das Resümee:

Nur der hat zu leben gewagt, der keine Grenze in sich hat, 
Und der gleich selig wohnt in Mensch und Tier und Blatt. 

Der Krieg

Die Stimme aus dem Dunkeln

Selbstgericht

Kurzbiographien

BERTA LASK

Geb. 17. November 1878 in Wadowice/Galizien, gest. 28. März 1967 in Berlin (Ost). Tochter eines Papierfabrikanten. Kindheit und Jugend in Pommern. Besuch der höheren Töchterschule; ein geplantes Studium wurde von der Mutter abgelehnt. 1901 heiratete sie den Arzt Louis Jacobsohn und zog nach Berlin; eine Tochter, drei Söhne. Lask schloss sich in Berlin der revolutionären Arbeiterbewegung an. 1923 Eintritt in die KPD, 1928 Mitbegründerin und Vorstandsmitglied des ‚Bundes proletarisch-revolutionärer Schriftsteller‘. Sie verfasste in den zwanziger Jahren aufsehenerregende proletarisch-revolutionäre Theaterstücke. Emigrierte 1933 in die Sowjetunion; 1953 Rückkehr nach Berlin (Ost), wo sie als freie Schriftstellerin lebte. 

 

MARIA BENEMANN

Geb. 5. April 1887 in der Brüdergemeinde Herrnhut, gest. 11. März 1980 in Überlingen. Mädchenname: Maria Dobler. Jugendjahre in Dresden. Heiratete 1906 den Buchhändler und Gründer des Horen Verlags Gerhard Benemann (starb im Herbst 1914); eine Tochter (1907) und ein Sohn (1911). Aufenthalte in Worpswede und Freundschaft mit Heinrich Vogeler. Veröffentlichte im Frühjahr 1914 erste Gedichte in der Zeitschrift Die weißen Blätter (1913 bis 1920). Enge Beziehung zu Richard Dehmel und Bekanntschaften mit Rainer Maria Rilke und Franz Werfel, Freundschaft mit Walter Gropius. Lebte nach dem Zweiten Weltkrieg einige Jahre in Mexiko, später in Großhansdorf bei Hamburg. 

 

ELSABETH MEINHARD

Geb. 29. August 1887 in Munderkingen/Württemberg, Sterbedatum nicht bekannt. Pseudonym für Elisabeth Fran[t]z. Lebte in Berlin-Wilmersdorf, seit 1934 in Stuttgart. Literarisch recht erfolgreich mit ihrem Roman Das Donauhaus (1918). Veröffentlichte 1919/20 Gedichte in den Zeitschriften Die Sichel und Romantik

Literaturverzeichnis:

Bruendel, Steffen: Deutschland muss leben, und wenn wir sterben müssen. In: Burcu Doggramaci u. Friedericke Weimar (Hrsg.): Sie starben jung. Künstler und Dichter, Ideen und Ideale vor dem Ersten Weltkrieg. Berlin: Gebr. Mann 2014.

Strasser, Nadja: Das Ergebnis. Berlin: Fischer 1919.

Vollmer, Hartmut: In roten Schuhen tanzt die Sonne sich zu Tod. Lyrik expressionistischer Dichter*innen. Hamburg 2012.